Pilgerbleifrei, bitte

...oder als niemand den Weg ging, waren hunderte unterwegs

 

Vorweg

 

Wer ist eigentlich auf die »Scheißidee« gekommen? Diese Frage stellten wir uns mehrmals auf dem erleuchteten Sternenweg nach Santiago de Compostela.

 

Ja, wer kam auf die Idee ganze 800 km durch die spanische Pampa zu Fuß, mit einem viel zu schweren Rucksack zu laufen, um sich sechs Wochen in spartanischen Verhältnissen mit schlechtem Essen von einer Pilgerherberge zur Nächsten zu schleppen?

 

Diese Menschen können nicht normal sein, die auch noch freiwillig diese Strapazen auf sich nehmen. Aber soll ich ihnen etwas verraten:

»ich bin gern ver—rückt und meiner Freundin Patricia ging es genauso.« Seit vielen Jahren verfolgte mich dieser Weg durch Bücher, Fernsehen und Vorträgen. Sie kennen doch sicherlich das Phänomen, wenn einem ein Thema interessiert, dass man ständig damit konfrontiert wird. So ließ mich dieser Weg nicht mehr los, und Patricia und ich beschlossen in vier Jahren diesen Weg gemeinsam zu meistern. Wir wollten im Jahre 2007 unser Abenteuer starten, da dies kein heiliges Jahr sein würde, indem der Namenstag Jakobus auf einen Sonntag fiel, und dies gebührend gefeiert wurde.

 

Leider wusste ich zur damaligen Zeit noch nicht, dass es durch »Hape Kerkelings« Buch einen richtigen Pilgerboom geben sollte.

 

Hätte er nicht noch ein paar Jahre warten können, damit auch ich diese kilometerlange Einsamkeit hätte erleben können, die er in seinem Buch beschreibt! Dementsprechend wurde mir das Glück beschert, wie auf dem Mittleren Ring in München zu wandeln, auf dem ich im ständigen Pilgerstau steckte.

 

Aber ich greife schon voraus, noch bin ich ja gar nicht gestartet.

 

Jetzt werden sie sich natürlich fragen, warum planen die vier Jahre vorher schon ihre Reise?

 

Zuerst mussten wir unsere Chefs davon überzeugen, sechs Wochen am Stück Urlaub zu bekommen, was heutzutage keine Selbstverständlichkeit ist.

 

Dann wollte ich zuerst einige Dinge in meinem Leben verändern, damit ich geistig frei für diesen Weg sei.

 

Aber was das Schönste war, ich hatte vier Jahre Vorfreude auf diese Reise. Somit konnte ich in aller Ruhe meine nötige Wanderausrüstung besorgen, und mich bei jedem kleinen Detail freuen, was mich im Voraus mit dem Weg verband.

 

Zwei Monate vor meiner Abreise begann ich langsam Stück für Stück meinen Rucksack zu packen. Bei jedem Teil konnte ich mich noch einmal fragen: »brauche ich das wirklich, oder ist es nur für meine Annehmlichkeit wichtig«?

Auf dem Weg wird es keine Bequemlichkeiten mehr geben, und alle Sicherheiten lege ich zuhause ab. Den einzigen Ballast, den ich tragen werde ist mein Rucksack, der dem Haus einer Weinbergschnecke gleicht. Das letzte Vertraute, welches mir den Halt für meine Unabhängigkeit gibt. Sechs Wochen wird er mich mit dem Lebensnotwendigen versorgen.

 

Patricia und ich werden den Weg gemeinsam gehen, und doch wissen wir, dass jeder von uns auch den Mut hat, alleine zu gehen, und wir nicht voneinander abhängig sind. Dies sollte von Anfang an geklärt werden, ansonsten herrscht ein Ungleichgewicht, welches oft auf solch einer Reise zum Zerbrechen der Freundschaft beitragen kann.

 

Kurz vor meiner Abreise war ich bei einem Freund zum Essen eingeladen. Ich philosophierte mit ihm über die bevorstehende Reise.

 

Ich sprach gerade über die Zeit, die vermutlich auf diesem Weg völlig bedeutungslos wird, als es in der Küche einen lauten Knall tat, und mir etwas aus dieser entgegenrollte, und in zwei Teile zerbrach.

 

Es war eine Eieruhr!

 

Ein deutlicheres Zeichen, dass die Zeit auf dieser Pilgerreise verloren ginge, würde ich wohl nicht bekommen.

 

Zeit und Raum ist eine Illusion, die wir uns in unseren Gedanken erschaffen haben, da unser Verstand die Unendlichkeit und Zeitlosigkeit nicht begreifen kann.

 

Wir brauchen einen Rahmen, in den wir unsere Alltäglichkeiten pressen können, um unserer Angst nicht ins Auge zu sehen.

 

Doch wie bei einem Blick durch das Glas eines Fensters, sehen wir stets welch Schönheit und Weite uns auf der anderen Seite erwarten würde.

 

Die meisten Menschen bleiben hinter dem Fenster stehen, und selbst wenn das Glas zerspringt, versuchen sie lieber den Riss zu kitten, und im Dunkel ihres Zimmers der Gewohnheiten zu verweilen, bevor sie sich dem unsicheren Unbekannten stellen.

 

Bei mir stand das Fenster schon lange weit offen, und dieser Weg war die Startbahn für den Flug durch das Fenster in die absolute Freiheit. Eine Aus – Zeit von den täglichen Verantwortlichkeiten und den strukturierten Gedanken.

 

Warum sollte es gerade dieser Weg sein?

 

Da ich zum ersten Mal solch lange Zeit von eineinhalb Monaten von zu Hause fort sein würde, brauchte ich noch die kleine Sicherheit, jeden Tag ein Nachtlager zu finden. Diese wurde durch die vielen Herbergen am Weg meist gewährleistet.

 

Etliche Pilger sind seit 840 n. Chr., wo  angeblich die Überreste des Apostels Jakobus durch eine Lichterscheinung über einem Feld wiederentdeckt wurde, die weite Strecke gepilgert. Dadurch hat dieser Weg eine kraftvolle Energie bekommen, welche unter anderem aber auch auf den Ursprung durch die Kelten herbeizuführen ist. Vermutlich benutzten diese schon vorausgehend jene Wegstrecke, die unterhalb der Milchstraße verläuft, und deshalb auch als Sternenweg bezeichnet wird. Die Kelten waren sehr naturverbunden und wussten, dass es viele Dinge gibt, die nicht mit unserem Verstand erklärbar sind.

 

Auf diesem Weg werde ich von Licht und Schatten begleitet werden. Vom Sonnenaufgang zum Sonnenuntergang, von Ost nach West, von hell zu dunkel. Ständig werde ich mit den Polaritäten der Erde bewusst in Kontakt treten.

 

Und es wird ein Weg der Freundschaft sein.

 

Wenn ich mir selbst der beste Freund bin, dann werden auch wunderbare Begegnungen mit anderen Menschen stattfinden.

 

Um die letzten Zweifel von der Tischkante zu fegen, ob dies auch die richtige Entscheidung ist, fragte ich meine himmlischen Helfer.

 

Also zog ich eine Engelkarte, die mir für den Weg Klarheit schenken sollte. Folgender Text überzeugte mich von der Richtigkeit dieser bevorstehenden Reise:

 

 

Retreat:

 

»Dies ist eine starke und klare Botschaft, dich sobald wie möglich eine Weile von allem zurückzuziehen. Deine Schutzengel möchten, dass du ein wenig Frieden und Stille erlebst, da du dich ausruhen, erfrischen und sammeln musst. Deine auf diese Weise verbrachte Zeit wird dir neue Energie schenken und deine Batterien aufladen. Du wirst sowohl neue Einsichten und die Antworten erhalten, die du suchst, als auch ein besseres Verständnis über die Richtung gewinnen, die du einschlagen sollst, und du erkennst welchen Schritt du als nächstes unternehmen solltest. Übergib dieses Bedürfnis nach einem »Retreat« deinen Engeln und sie werden sich um die Einzelheiten kümmern. Sie werden dafür sorgen, dass dir die Zeit, das Geld und jegliche Unterstützung zur Verfügung steht, die du brauchst, um eine wunderbare Erfahrung zu machen. Vertraue darauf, dass der Ort, an den sie dich schicken, ideal für dich ist. Dies ist ein Segen nicht nur für dich, sondern auch für deine Lieben, da es dazu beitragen wird, dass du glücklicher und gesünder bist. Es ist kein Zeichen von Egoismus, wenn du dich auf diese Weise um dich selbst kümmerst – vielmehr ist eine Investition in dein Wohlergehen und ein Geschenk an deine Familie. Zieh dich ohne Zögern eine Weile zurück.«

 

 

Besonders freute ich mich auf den Anfang und das Ende der Reise. Seit längerer Zeit verband mich eine besondere Liebe zu dem Gebirgszug, den Pyrenäen, obwohl ich bisher noch nicht dort war.

 

Am Ende führte der Weg durch die Region »Galicien«, in dem der Geist der Kelten noch besonders spürbar sein sollte.

 

Nach dem eigentlichen Ziel Santiago, ging es weitere 97 Kilometer bis an das damalige bekannte Ende der Welt »Finesterre«, um alles Alte dem weiten Meer zu übergeben.

 

So machten wir uns dann Ende April bereit für unsere:

»Expedicion  a España«.

 

Getragen von lieben Gedanken meiner Familie und Freunde, und dem Vertrauen auch meine Engel an meiner Seite zu wissen, machte ich den ersten Schritt.

 

 

Aufbruch

 

Was wird in mir aufbrechen?

 

Es wird einen Bruch mit vertrauten Gewohnheiten geben. So kann sich meine Seele wie eine Knospe bei jedem Schritt  entfalten, um mir vermehrt ihre Schönheit zu zeigen. Das befreit mich vom Urteil, Meinungen und Handlungen anderer Menschen.

 

Meine Lernaufgabe und Herausforderung wird insbesondere die Übung in Geduld und die Langsamkeit auf diesem Weg sein.

 

Ich wollte mit dem Zug anreisen, aber da dies sehr teuer und bei unserem begrenzten Zeitlimit nicht von Vorteil gewesen wäre, entschieden wir uns für einen Kombiflug. Dieser Billigflieger sollte uns nach Bilbao bringen, welches noch 200 km von unserem Startpunkt entfernt lag. Zurück konnten wir dann direkt von Santiago aus fliegen.

 

Nun verabschiedete ich mich am 27. April um 4.30 Uhr schweren Herzens von meinem kuscheligen eigenen Bett, zog die Tür hinter mir zu, und machte die ersten paar Schritte mit meinem neuen Haus auf dem Rücken. Bei meiner Freundin erwartete mich Frank, der Freund von Patricias Schwester, der die Ehre hatte, uns zwei Grazien zum Münchner Flughafen zu chauffieren. Wir hatten den Mann für diese Stunde sorgsam ausgewählt, denn nicht jeder erträgt uns im Doppelpack. Aber da Frank nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen ist, und er zusätzlich auf Durchzug schaltete, ertrug er geduldig unsere 1½ -stündige Lachsalve. Allerdings hatte ich jetzt schon einen Muskelkater, obwohl ich mich noch gar nicht sportlich betätigt hatte. Die Zeit am Flughafen brachten wir mit weiteren Lachattacken rum, wo uns auch schon ein zahnloser Franzose humorvoll zur Stille bekehren wollte, womit er allerdings keinen Erfolg hatte, und er das einzig Richtige tat, und mitlachte.

 

Im Flugzeug verhielten wir uns dann relativ gesittet, so dass wir nicht weiter auffielen. Leider hatten wir eine Zwischenlandung in Madrid. Dadurch konnten wir das Magenheben und -senken vollkommen auskosten. Wenn wir uns nämlich gerade vom Start erholt hatten, setzte der Flieger auch schon wieder zur Landung an. Mittags konnten wir endlich erleichtert den spanischen Boden in Bilbao küssen. Wir warteten bei der Gepäckausgabe auf unsere Rucksäcke und waren erleichtert, dass auch sie den Flug unbeschadet überstanden hatten. Wir durchschritten den Flughafen, welcher mit großen Holzskulpturen verziert war, in Richtung Ausgang. Wir hatten beschlossen mit dem Taxi, die letzten 200 Kilometer zurückzulegen. Dies würde zwar ein größeres Loch in die Reisekasse reißen, aber wir kamen entspannter und schneller als mit dem Bus an unserem Ausgangspunkt an.

 

Nachdem sich unser auserwählter Taxifahrer bei seinem Kollegen über die ungefähre Lage unseres fremden Zielortes schlau machte, handelten wir einen relativ fairen Preis aus und bewegten uns gen Osten. Der Fahrer sprach natürlich nur Spanisch und war völlig von der Technik seines Navigationssystems abhängig. Er drückte mir einen Stapel Landkarten in die Hand, um ihm diesen unbekannten Ort zu zeigen. Nachdem ich mehrmals den Namen des Ortes in verschiedenen Sprachen und Schreibvariationen in den »Navy« eingegeben hatte, musste ich feststellen, dass wir in einem Geisterort starten würden. Also gab ich den nächsten größeren Ort ein, der auf der Strecke lag, und siehe da, der Computer sprach mit mir. Nun hatte der völlig Orientierungslose wieder seinen technischen Halt.

 

Da wir scheinbar so hungrig aussahen, wie der Taxifahrer war, fütterte er uns mit seinen letzten gebrannten Mandeln. Auf jeden Obststand am Straßenrand machte er uns aufmerksam, in der Hoffnung, dass wir einen Zwischenstopp einlegen wollten, um etwas zu essen. Allerdings wollten wir nur endlich aus jedem Fortbewegungsmittel aussteigen und ankommen.

 

Nach zwei bis drei Stunden in denen wir durch grüne hügelige Landschaften fuhren, kamen wir in St.-Jean-Pied-de-Port in Frankreich an. Wir zahlten dem netten Fahrer 250 Euro und stiegen erleichtert aus, froh wieder unsere eigenen Füße zum Vorwärtskommen zu benutzen. St.-Jean war ein wunderschönes, touristisches, kleines Städtchen, welches im Mittelalter die Hauptstadt des letzten König-Reichs Nieder- Navarras war.

 

Wir befanden uns jetzt im Sprachgebiet der Basken.

 

Auf dem Weg durch das Örtchen lockte uns eine herzliche ältere Dame in ihre Pension. 20 Euro sollte die Nacht mit Frühstück für jeden kosten, und da sie so lieb war, gewährten wir uns heute noch mal den Luxus unter uns zu sein, und in einem richtigen Bett zu schlafen. Alle Pilger hatten einen Pilgerpass, der bei jeder Herberge abgestempelt wurde. Besonders die letzten 100 Kilometer waren wichtig als Nachweis, um die Urkunde (Compostela)  in Santiago zu erhalten. Als sie uns dann den ersten Stempel in unseren Pilgerpass drückte, und mit ihrem Namen, der »MARIA CAMINO« lautete, unterschrieb, wussten wir, dass unser Weg unter einem guten Stern stehen würde. Der Jakobsweg hieß in Spanien »Camino«, und jeden Pilger begrüßte man mit: »Buen Camino«, womit man einen guten Weg wünschte.

 

Wir packten unsere wenigen Habseligkeiten aus, die wir für die erste Nacht benötigten, und begaben uns dann auf die Suche nach etwas Essbarem, wobei wir schon heute einen Vorgeschmack auf die kulinarische Vielfältigkeit bekamen, die uns den gesamten Weg begleiten würde. Wir fanden nach langer Suche ein bezahlbares Lokal, wo wir eine Suppe und einen Salat bestellten. Als wir das Restaurant verließen, passte sich das Wetter dem Gemütszustand von Patricia an. Wir wurden mit Blitz, Donner und Wolkenbruch empfangen, und Patricia ließ erstmal alle aufgestauten Ängste los, insbesondere die Angst, den Weg nicht zu schaffen. Ich überzeugte sie davon, einfach mit dem ersten Schritt zu beginnen, und sich selber keinen Druck zu machen. Wir würden Schritt für Schritt vorwärts gehen und egal wie das Ziel aussehen wird, die einzelnen Schritte würden uns neue Erfahrungen für uns selbst bringen.

 

Als sich ihre letzte Wimperntusche mit meinem Hemd vereinigt hatte, konnte sie schon wieder lachen. Somit durfte ich mich nun schon am ersten Tag mit der Handwäsche anfreunden!

 

Dann genossen wir die letzte ruhige Nacht, um am Morgen als Pilger zu erwachen.